Das Schweizer Tech-Unternehmen Proton hat angefangen, seine Server aus der Schweiz abzuziehen. Im Interview verteidigt der CEO seinen Kurs und greift den Bundesrat scharf an.
Andy Yen, CEO von Proton, nimmt Einfluss auf die Schweizer Gesetzgebung.
PD
Herr Yen, Proton hat angefangen, seine Server aus der Schweiz abzuziehen. Warum?
Weil der Bundesrat gerade dabei ist, die Massenüberwachung in der Schweiz massiv auszuweiten.
Wegen der Revision der Vüpf, der Verordnung über die Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs?
Ja. Mit der Verordnung, wie sie der Bundesrat im Januar vorgeschlagen hat, müssten wir alle unsere Nutzer identifizieren, ihre Metadaten erheben und speichern. Unter anderem müssten wir Informationen über ihren Aufenthaltsort speichern und solche, die zeigen, mit wem sie in Kontakt stehen. Das wäre ein massiver Eingriff in die Privatsphäre.
Vüpf
Die Verordnung zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (Vüpf) regelt, welche Unternehmen in der Schweiz auf welche Art und Weise mit dem Überwachungsdienst (Dienst ÜPF) zusammenarbeiten müssen.
Nun will das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) unter Beat Jans die Verordnung revidieren und dabei die Kompetenzen der Strafverfolgungsbehörden ausweiten. Wird die Verordnung wie vorgeschlagen umgesetzt, müssten künftig mehr Unternehmen enger mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten als heute.
Der E-Mail-Dienst Proton und der Messenger-Dienst Threema müssten beispielsweise mehr Daten über ihre Nutzer erheben und speichern, damit die Behörden mehr Anhaltspunkte haben, um Kriminelle zu entlarven. Aber auch wesentlich kleinere Unternehmen wären betroffen.
Neben Datenschutz- und Privatsphäre-Organisationen kritisieren fast alle grossen Schweizer Parteien das Vorhaben: SVP, FDP, GLP, SP und Grüne empfinden die Revision als unverhältnismässig und lehnen sie ab. Die Parteien fürchten, Schweizer Tech-Unternehmen würden allzu strenge Pflichten auferlegt oder der Datenschutz würde geschwächt.
Die FDP, die GLP und die Grünen kritisieren zudem, die Verordnung gehe über die gesetzlichen Grundlagen hinaus. Damit werfen sie dem Bundesrat indirekt vor, dass er seine Kompetenzen überschreite, am Volk und am Parlament vorbeireguliere.
Am 10. Dezember hat der Ständerat eine Motion angenommen, wonach der Bundesrat die Verordnung grundlegend überarbeiten und dann nochmals in die Vernehmlassung geben müsste. Die Abstimmung im Nationalrat steht noch aus.
Andy Yen
ist Gründer und CEO von Proton. Er promovierte in Teilchenphysik an der Harvard Universität und arbeitete danach als Wissenschafter am Cern in Genf. Nach den Enthüllungen von Edward Snowden verliess er das Cern, um den verschlüsselten E-Mail-Dienst zu gründen.
Was haben Sie aus der Schweiz bisher schon abgezogen?
Wir haben angefangen, unsere gesamte Infrastruktur zu kopieren. Unsere Daten befinden sich nun auf Servern sowohl in der Schweiz wie auch in Deutschland und Norwegen. Wenn nötig, können wir die Systeme in der Schweiz innerhalb von kurzer Zeit herunterfahren. Ich hoffte immer, solche Schritte nie einleiten zu müssen. Aber das Umfeld in der Schweiz ist für uns zurzeit zu unsicher. Wir hatten keine andere Wahl, als unseren Wegzug zu planen.
Haben Sie auch Angestellte abgezogen?
Ja, manche. Und wir stellen im Moment vermehrt Angestellte ausserhalb der Schweiz ein.
Was würde die revidierte Vüpf für Proton konkret verändern?
Zusätzlich zur Speicherung der Metadaten müssten wir ein neues Portal entwickeln, mit dem der Bund automatisiert auf unsere Server zugreifen könnte. Das wäre eine Hintertür, mit der potenziell jeder Polizist und jeder Staatsanwalt auf die Daten unserer Kunden zugreifen könnte. Das wäre eine anlasslose Massenüberwachung, die dem fundamentalen Recht auf Privatsphäre widerspricht. Wir werden nie ein solches Zugriffsportal entwickeln. Tritt die Verordnung in Kraft, werden wir die Schweiz verlassen.
Warum sprechen Sie von anlassloser Massenüberwachung? Die Strafverfolger würden ja nur auf die Daten jener Nutzer zugreifen, die mutmasslich kriminell sind.
Der Staat erhält Zugriff auf die Daten aller Nutzer. Vertrauen Sie dem Staat, dass er nur jene Daten abruft, die er darf? Vielleicht können wir der heutigen Regierung trauen. Aber schauen Sie mal in die USA. Dort hat eine einzige Wahl die Natur des Staates verändert. Fundamentale Freiheitsrechte wie jenes auf Privatsphäre und auf Schutz vor Überwachung sind es wert, verteidigt zu werden. Ohne sie gibt es keine echte Demokratie.
Aber für Überwachungen gelten in der Schweiz hohe Hürden: Es braucht einen dringenden Tatverdacht auf ein schweres Delikt und den Entscheid eines Zwangsmassnahmengerichts.
Nicht in jedem Fall. Anfragen können Behörden auch ohne Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts stellen. Grundsätzlich finde ich es in Ordnung, wenn Daten von Menschen gespeichert werden, gegen die wegen schwerer Straftaten ermittelt wird. Proton kooperiert seit Jahren mit Strafverfolgungsbehörden, um Kriminelle zu überführen. Aber es sollen Einzelfälle bleiben.
Die Vüpf verlangt, dass wir alle unsere Nutzer überwachen müssten. Es geht also um die Frage, ob wir grundsätzlich davon ausgehen, dass die Menschen ehrlich sind und vor Überwachung geschützt werden sollen. Oder ob wir alle unter Generalverdacht stellen.
Es ist ein wichtiger Grundsatz einer Demokratie, dass man so lange als unschuldig gilt, bis einem eine Straftat nachgewiesen werden kann.
Die Regeln, die Sie so vehement ablehnen, gelten für Firmen wie Swisscom, Salt oder Sunrise schon lange. Warum wäre es für Proton ein Problem, die gleichen Regeln zu befolgen?
Dass die Telekom-Firmen ihre Kunden derart überwachen müssen, lehne ich ebenfalls ab. In Deutschland ist Vorratsdatenspeicherung illegal.
Vorratsdatenspeicherung
Schweizer Telekom-Firmen wie die Swisscom, Salt oder Sunrise müssen das Kommunikationsverhalten ihrer Kunden für sechs Monate speichern. Die Daten zeigen unter anderem, wer mit wem in Kontakt war und wo sich die Menschen aufhalten. Sie werden als Metadaten oder Randdaten bezeichnet.
In Deutschland ist die Vorratsdatenspeicherung illegal. Das hat das Bundesverfassungsgericht 2010 entschieden. Auch der Europäische Gerichtshof lehnt die Praktik ab. Das Schweizer Bundesgericht hat die Vorratsdatenspeicherung derweil erlaubt.
Gegner der Vorratsdatenspeicherung, darunter die Digitale Gesellschaft Schweiz, haben eine Beschwerde gegen die Schweiz am Europäischen Gerichtshof der Menschenrechte eingereicht. Sie ist seit 2018 hängig.
Der Unterschied zwischen FDA und AAKD
Telekom-Firmen wie die Swisscom, Salt oder Sunrise werden nach der Vüpf als Anbieterinnen von Fernmeldediensten (FDA) eingestuft. Sie müssen die Vorratsdatenspeicherung durchführen.
Digitalunternehmen wie Proton oder Threema, die ihre Dienstleistungen auf jenen der FDA aufbauen, gelten als Anbieter abgeleiteter Kommunikationsdienste (AAKD). Sie müssen heute keine Vorratsdaten speichern.
Die revidierte Vüpf sieht vor, dass es zukünftig drei statt zwei Kategorien AAKD gäbe: solche mit minimalen Pflichten, solche mit reduzierten Pflichten und solche mit vollen Pflichten.
Proton befürchtet, als AAKD mit vollen Pflichten eingestuft zu werden. Dann müsste das Unternehmen künftig etwa die gleichen Pflichten erfüllen wie die Swisscom oder andere FDA.
Ausserdem ist Proton wesentlich höherem Wettbewerbsdruck ausgesetzt als die Swisscom. Die Swisscom konkurriert mit Salt und Sunrise. Diese Unternehmen haben auf dem Schweizer Mobilfunkmarkt ein Oligopol. Aber Proton ist eine internationale Firma. Wir konkurrieren mit Google, Apple, Microsoft. Die Verordnung ist unfair, weil sie nur uns betrifft, nicht aber unsere Konkurrenten, obwohl sie in der Schweiz aktiv sind. Die Schweiz schadet so ihrem Tech-Standort.
Es ist absurd: Die meisten Länder führen Barrieren ein für Firmen aus dem Ausland. Aber die Schweiz würde mit der Vüpf Barrieren erhöhen für Firmen im Inland. Für Proton, also für die Schweizer Firma, gälten wesentlich striktere Regeln als für Google. Und dies, obwohl Google auch Tausende von Angestellten in der Schweiz hat, seine Dienste in der Schweiz vertreibt und erst noch mehr Nutzer hat als Proton.
Alle Parteien sind gegen die revidierte Vüpf. Der Bundesrat stimmt zu, dass er die Verordnung grundlegend überarbeitet und eine neue Vernehmlassung durchführt. Man darf also eine abgeschwächte Variante der Vüpf erwarten. Übertreiben Sie es mit Ihrer Reaktion?
Nein. Am Mittwoch wurde die Vüpf im Ständerat zum Thema. Die Aussage von Bundesrat Beat Jans während der Debatte lässt leider vermuten, dass er seinen eigenen Vorschlag immer noch nicht verstanden hat. Der Bundesrat bestreitet weiterhin jegliche Massenüberwachung, was dem Verordnungstext direkt widerspricht. Es stimmt zwar, dass der Staat die Daten nicht selbst speichert. Aber er zwingt Firmen dazu, diese Aufgabe zu übernehmen. Der Unterschied ist rein formal.
Andy Yen, CEO bei Proton, spricht mit Ständerätin Johanna Gapany (FDP) während der Wintersession. Bundeshaus, Bern, 10. Dezember 2025.
Anthony Anex / Keystone
Es wäre auch möglich, dass die Vüpf weniger strikt ausgelegt würde, als Sie befürchten. Jean-Louis Biberstein, der stellvertretende Leiter des Diensts ÜPF, suggerierte in Medieninterviews, dass für Proton auch mit der revidierten Vüpf die gleichen Pflichten gälten.
Ich bin mir sicher, dass die Behörden die maximale Zusammenarbeit von uns fordern würden. Das haben sie schliesslich schon früher getan. Sie wollten uns die gleichen Pflichten wie der Swisscom aufbürden. Dies konnten wir nur dank einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts abwehren.
Das Vorgehen des Bundes ist zutiefst undemokratisch. Er unterlag vor Gericht. Nun wählt er ausgerechnet eine Verordnung, um sein Ziel doch zu erreichen. Gegen Verordnungen kann kein Referendum ergriffen werden. Dies, obwohl die Verordnung wesentlich über den Rahmen des Gesetzes hinausgeht.
Hinter der Vüpf-Revision stehen die Strafverfolgungsbehörden. Historisch konnte die Polizei 100 Prozent der Kommunikation überwachen: Telefonanrufe konnten mitgehört werden, Briefe konnten abgefangen und gelesen werden. Heute ist die Kommunikation verschlüsselt und damit privater als jemals zuvor. Damit wird es für die Behörden schwieriger, Straftaten aufzuklären.
Das stimmt. Aber die Überwachungsbehörden haben früher nicht alle Briefe geöffnet. Das wäre auch nie erlaubt gewesen. Mit der Vüpf fordern die Behörden einen digitalisierten Zugriff auf sämtliche Kommunikation.
Es geht aber nur um Metadaten, nicht um die eigentlichen Inhalte der Kommunikation. Die bleiben ja verschlüsselt.
Ja, aber Metadaten sind hochsensitive Daten und erlauben weitgehende Rückschlüsse über das Leben von Menschen. Michael Hayden, ein ehemaliger Chef des amerikanischen Auslandgeheimdienstes (NSA), sagte einst: «Wir töten Menschen, basierend auf Metadaten.»
Gewisse Straftaten wie zum Beispiel der Handel mit grossen Mengen von Drogen lassen sich nicht ohne Überwachung aufklären. In einer Hausdurchsuchung kann man nur gerade feststellen, dass ein Dealer ein Kilo Kokain besitzt. Wie viele Kilos er davor schon gehandelt hat, wird nur aus historischen Daten sichtbar, also nur durch Zugriff auf historische Überwachungsdaten.
Das mag sein. Aber wir müssen bei jedem neuen Gesetz und jeder neuen Verordnung die Vor- und Nachteile abwägen. Hätten die Schweizer Behörden dank der Vüpf erst einmal ein System, mit dem sie automatisiert auf Nutzerdaten von Proton, Threema und anderen Firmen zugreifen können, würden sie auf einen Schlag attraktiv für Hacker. Autokratische Regierungen warten nur darauf, zu erfahren, wie sich die Demokratieaktivisten in ihren Ländern organisieren. Die Schweizer Behörden würden wohl schnell zu einem beliebten Angriffsziel von staatlichen Hackern aus Ländern wie Russland.
Dazu kommt: Auch Proton könnte gehackt werden. Aus diesem Grund erheben wir so wenig Daten wie möglich über unsere Nutzer. Selbst wenn wir gehackt würden, erfahren die Angreifer sehr wenig über unsere Kunden. Nur so können wir deren Privatsphäre wahren.
Wie erklären Sie es sich, dass der Bundesrat bei der Revision der Vüpf so stark kritisiert wird?
Weil beim Schreiben der Verordnung vieles schiefgelaufen ist. Wer die Gesetzgebung der Polizei überlässt, sollte sich nicht wundern, wenn er eines Tages in einem Polizeistaat aufwacht. Es braucht im Gesetzgebungsprozess verschiedene Interessengruppen. Bei der Überwachung sollten auch Menschenrechtsorganisationen, Startups und etablierte Unternehmen mitreden. Das hätte ein ausbalancierteres Ergebnis gebracht.
Staatsanwälte berichten, dass viele Cyberkriminelle Proton-Mail nutzen. Was tun Sie, um Kriminelle auf Ihrer Plattform zu identifizieren?
Proton hat heute rund 500 Angestellte. Etwa 50 davon arbeiten daran, die kriminelle Nutzung zu erkennen und zu unterbinden. Kein anderes Tech-Unternehmen investiert prozentual so viel in die Bekämpfung von krimineller Nutzung wie wir.
Was machen die Angestellten konkret?
Sie suchen gewisse Muster in der Nutzung. Und sie sammeln Hinweise im Darknet. Finden sie zum Beispiel Proton-Mail-Adressen in kriminellen Internetforen, werden die Konten dahinter gesperrt. Das tun wir in der Hoffnung, dass die Straftäter einen anderen Dienst benützen, wenn sie regelmässig Zugang zu ihrem E-Mail-Postfach verlieren. Wir kämpfen aus Eigeninteresse gegen Kriminelle. Sie sind nicht gut für uns, denn sie bezahlen kein Geld für unsere Dienste.
Woher können Sie das wissen? Sie lesen die Inhalte nicht mit, also können Sie nie wissen, wer auf Ihren Diensten gerade eine Straftat plant.
Das stimmt. Aber wir sehen aus den Zahlen, dass wir Kriminelle erfolgreicher bekämpfen als viele andere Unternehmen. Wir haben prozentual an der gesamten Nutzerschaft deutlich weniger Anfragen von Strafverfolgungsbehörden als Google.
Aber Sie können nie alle Straftäter ausschliessen.
Es ist leider schlicht unmöglich, dass wir alle Straftäter erkennen. Aber das Problem haben sämtliche digitalen Plattformen. Straftäter sind eine kleine Minderheit unserer Kunden. Stellen Sie sich vor, Sie hätten einen Raum mit 100 Personen. Einer davon ist kriminell, aber Sie wissen nicht, wer. In einer Demokratie würden Sie davon absehen, die 100 Menschen einzusperren, weil einer straffällig wurde.
Sie haben entschieden, Proton in einer nichtgewinnorientierten Stiftung zu betreiben. Warum?
Ich wollte sicherstellen, dass unsere Mission nie hinter die Geschäftsinteressen treten muss. Bei Proton glauben wir an das Recht auf Privatsphäre, Freiheit und Demokratie. Das Geschäft ist der Mission untergeordnet. Wären wir ein normales, profitorientiertes Unternehmen, hätten wir unseren Hauptsitz längst nach Deutschland verschoben. Dort könnten wir EU-Subventionen erhalten und müssten uns nicht mit der Vüpf rumschlagen. Aber bei Proton tun wir, was richtig ist. Deshalb sind wir noch hier und versuchen für eine Gesetzgebung zu kämpfen, die einer Demokratie würdig ist.